Mir kommt vor dass Online-Dating zeigt, dass wir in einer Gesellschaft leben, die nicht nur aus Egoisten besteht, sondern diese Egoisten in ihrem Egoismus bestärkt. Dabei glaube ich nicht daran, dass Egoismus ein adäquates Konzept für erwachsene Menschen ist oder dass er zum Glücklichsein führt. Ich glaube nicht, dass es glücklich machen kann, bei den eigenen Bedürfnissen zu starten und die Welt nach Helfern abzuklappern, die diese Bedürfnisse erfüllen können.
Zu abstrakt? Hier gerne konkret: Aus einem Tinderprofil: „Wenn du ein Nasenpiercing trägst, wische nicht nach rechts.“ Man stellt sich einen Rockstar vor, der sich vor lauter Groupies nicht retten kann, und dem seine Mutter den Rat gegeben hat: „Überleg doch erstmal, was dir wirklich wichtig ist, damit du nicht immer wieder an die falsche gerätst“. Diese Person fängt mit ihren Wünschen an, und ist sicher erfolgreich damit, den Andrang unerwünschter Bewerberinnen zu reduzieren.
In der Offline-Welt ist es automatisch umgekehrt, schon weil erstens die Illusion eines unendlichen Pools an „Bewerberinnen und Bewerbern“ nicht besteht. Und weil zweitens, der nächste Schritt kein Wischen ist, und überhaupt keine Bewegung die man einem Affen auf der Suche nach Futter beibringen könnte, sondern all unser Können, unser Wissen, unsere Ressourcen und unseren Einfallsreichtum herausfordert. Wie kann ich den anderen wiedersehen? Wie kann ich ihn auf mich aufmerksam machen? Wie kann ich ihm mein Interesse signalisieren? Wischen? Wischful thinking.
Jemanden zu lieben, also mehr zu lieben als uns selbst, und einmal – ausnahmsweise! – an jemanden anderen zu denken als uns selber, ermöglicht es uns den Egoismus überwinden. Vielleicht fängt es an in dem Bedürfnis den anderen zu erobern. Doch um das zu tun müssen wir uns ihn ihn hineinversetzen. Uns in Empathie üben. Was könnte ihm gefallen? Was tut er? Wo hält er sich auf? Was treibt ihn um? Was ist ihm wichtig? Was hält ihn auf? Was blockiert ihn? Was könnte ihm helfen seine Ziele zu erreichen? Könnte ich etwas für ihn tun? Könnte ich diejenige sein, die ihn dahin bringt, wo er hin will? Könnte ich diejenige werden, in dem ich Fähigkeiten ausbaue, oder eigenen Restriktionen hinterfrage? (wäre ich bereit, ein Nasenpiercing zu entfernen oder zu tolerieren…). Und irgendwann findet man Antworten, was man tun kann, und ist neu inspiriert für großartige Projekte. Oder: man stellt fest, dass man nichts tun kann, weil alles was dieser Mensch braucht außerhalb der eigenen Möglichkeiten liegt, oder alles andere ist außer man selbst. Doch auch dann hört man nicht auf zu lieben. Dann fängt man erst an.
An den Menschen zu denken an dem man interessiert ist, kann wie eine Meditation sein. Ein Heraustreten aus sich selbst, eine Reise in die Welt außerhalb des Ichs, ein Eintauchen in tiefere Zusammenhänge, ein Perspektivenwechsel, eine Bergersteigung aus der man zurückblickt, zurück ins Tal, vielleicht sich selbst erblickt und sieht wie klein man ist. Und plötzlich erscheinen einem die eigenen Bedürfnisse weniger wichtig, vielleicht kindisch, vielleicht engstirnig, vielleicht irrelevant, in jedem Fall klein. Und dann kommt man zurück und öffnet die Augen und ist dankbar. Dankbar dafür dass man kein Tier ist und kein Kleinkind ist. Dass man nicht blind seine Finger nach jeder Süßigkeit ausstrecken muss und schreit wenn die Welt sie einem verwehrt. Sondern dass unser natürlicher Trieb, unser Verlangen nach dem Anderen uns als denkende Wesen nicht nach unten ziehen, sondern zu höherem führen. Zu höherem Bewusstsein, höheren Ambitionen. Liebe heißt den Egoismus überwinden.