Es geht weiter mit dem Hinausgehen in die Welt. Ja, zuhause ist es gemütlich. Aber der Schritt vor die Tür ist unabdingbar um die Liebe zu finden. Das Schöne: welche bessere Motivation als die Liebe gibt es, um bei Regen und Schnee, bei Müdigkeit und Erschöpfung trotzdem hinauszugehen? Und sobald man draußen steht, kann sie an jeder Ecke lauern. Man läuft die Straße entlang, erhobenen Hauptes, im sorgfältig kuratierten Outfit, wer weiß, vielleicht beobachtet ER mich schon!
Ein Auto hupt. Blick hinüber. Handwerker. Vielleicht ist ER das nicht. Aber es sind Männer die meine Schönheit bemerkt haben. Lächeln, weiterlaufen. Nicht mein Stil von Komplimenten, aber nichtsdestotrotz ein Kompliment. Liebe ist Annehmen des Anderen wie er ist.
Ein Auto hält und fragt nach dem Weg. Der Fahrer könnte ER sein! Liebe ist Optimismus.
Der Fahrer des Autos entpuppt sich als alter Mann, neben ihm sitzt seine Frau. Tut das der Liebe Abbruch? Nein! Vielleicht sind das SEINE Eltern. Und vielleicht beobachtet ER mich gerade, als ich den Fremden freundlich Auskunft erteile. Liebe ist Weitsicht.
Man steht an der Tramhaltestelle und lässt die Blicke schweifen. Wer steht hier noch alles mit mir? Vielleicht steht er schon da! Wer wird wohl in der Tram sein? Vielleicht ist ER es? Liebe ist Neugier.
Vier Begegnungen, nichts Besonderes vielleicht, und auch nichts, was sich zu einer Partnerschaft weiterentwickelt hätte. Kurze Augenblicke. Und doch: Augenblicke der Liebe.
Vielleicht erscheint das selbstverständlich, vielleicht erscheint die Beschreibung übertrieben, aber: wenn man es mit Online-Dating vergleicht wird klar: nichts daran ist selbstverständlich.
Der heimliche Beobachter, der Handwerker, der Fahrer, der Mitwartende an der Haltestelle: im Online-Dating wären das 4 Swipes nach links. Dass man beobachtet wird, wird im Online-Dating entweder vergessen, oder es ist latent bedrohlich. Es könnte die ganze Welt sein und nicht die vertraute Straße. Der Handwerker wird aufgrund oberflächlicher Kriterien einfach weggewischt, und nicht einmal zum Komplimente machen ist er gut genug. Der Fahrer: verheiratet, was hat das Schwein hier zu suchen? Wie kommt er auf die Idee, mit mir reden zu wollen? Der Wartenden an der Tram-Haltestelle: schon herausgefiltert, weil: zu alt, Frau, zu jung, etc. Kein Interesse. Keine Neugier. Kein Optimismus. Keine Weitsicht. Kein Annehmen des anderen wie er ist. Keine Liebe.
Ich habe in dieser Erzählung absichtlich ein Handwerker-Auto hupen lassen. Es gibt den Begriff Catcalling und Frauen empören sich zu Recht, wenn sie auf offener Straße von Fremden mit Obszönitäten und Beleidigungen bedacht werden, ohne vom Gesetz oder Umstehenden davor beschützt zu werden. Nun ist es theoretisch möglich, dass ein Hupen oder ein Pfeifen stellvertretend steht für eine verbale Entgleisung. Man kann es so interpretieren – man muss aber nicht. Und das ist hier mein Appell: man hat bei ganz vielen Äußerungen von Unbekannten die Wahl, es feindselig oder wohlwollend zu interpretieren. Ich entscheide mich für die wohlwollende Interpretation. Die Interpretation, die davon ausgeht, dass der fremde Mann, selbst wenn er nicht meinen Vorstellungen des Traumprinzen entspricht, und selbst wenn die Art der Kommunikation nicht der meines Lieblingsdichters entspricht, dass er doch ein guter Mann ist und dass die Motivation seines Handelns die Liebe ist. Und das will ich annehmen und mich darüber freuen. Ich denke bevor man sich über irgendeine „Anmache“ ärgert, sollte man sich immer fragen: „Hätte es mich auch geärgert, wenn es von meinem Traumprinz gekommen wäre?“
Liebe heißt der Welt wohlwollend entgegentreten.