Liebe beginnt bei einem selbst

Wie ist Liebe offline, fragst du. Nun, ich werde es dir erzählen. Es beginnt ganz am Anfang.
Es beginnt bei dir selber. Wenn du morgens nach dem Duschen in den Spiegel blickst, dann siehst du eine attraktive junge Frau (oder einen attraktiven Mann natürlich – dieser Text ist jetzt aus Frauenperspektive geschrieben, aber ich hoffe dem geneigten Leser gelingt der Transfer). „Halloooo“, sagst du dir selber und zwinkerst dir zu. Du bist schön, du bist sexy und du bist soeben dem ersten Menschen begegnet, der das zu schätzen weiß. Du willst losrennen und die Welt erobern, aber noch bevor du das Zimmer verlässt, drehst du dich nochmal um, und im Spiegel siehst du eine wunderschöne Frau, die verführerisch über die Schulter guckt. Du musterst sie von unten bis oben: tolle Beine, tolle Hintern, tolle Haare. Du drehst eine Pirouette vor Freude. Tolle Bewegung. Du gehst ein paar Schritte auf den Spiegel zu. Oberkörper raus. Tolle Schultern, tolle Brüste. Toller Hüftschwung. Du blickst dir tief in die Augen. Tolle Augen.
„Weißt du was“, sagst du zur Schönheit im Spiegel. „ich glaube die Welt freut sich schon auf deinen Auftritt.“ Du blickst auf die Uhr und merkst: Oh. Vielleicht wartet die Welt, aber der Bus wartet noch nicht. Sechzig Minuten Vorfreude: die wollen genutzt sein.
Du gehst sodann zu deinem Schminktisch und beginnst mit deiner ersten liebevollen Arbeit. Mit liebevoll meine ich: inspiriert von Liebe, motiviert durch Liebe und durchgeführt mit Liebe.
Die Haut- sie will berührt werden. Die Wangen – sie wollen leuchten. Die Augen – sie wollen strahlen. Die Lippen – sie wollen verführen. Das alles siehst du, erkennst du, erkennst du an, gestehst du zu, und all diese Wünsche erfüllst du. Das ist der erste Wunsch, den du einer geliebten Person erfüllst, und das ist der erste Wunsche, der dir von einer geliebten Person erfüllt wird.
Du schließt die Augen und öffnest sie und der Wunsch ist wahr geworden. Ein gepflegtes buntes Gesicht strahlt dich an und beglückwünscht dich zu deinem guten Geschmack. Kannst du mir noch einen Wunsch erfüllen, fragt es, und du antwortest, ja! Jeden!
Die Frau im Spiegel will Kleider und wie es der Zufall will, hast du einen ganzen Schrank davon. Mir ist nach Frühling, ich will tanzen, sagt die Frau, und zeigt auf das Kleid, das ihrer Stimmung entspricht. Und du willst es ihr schon reichen, da fällt dein Blick auf das Fenster und du sagst: nein, Liebste, ich will nicht dass du frierst. Du versuchst sie mit einem kuscheligen Pullover zu trösten, aber sie ist erst wieder zufrieden, als du ein buntes Tuch findest. Das Gesamtkunstwerk ist vollbracht. Ein Outfit, das Inneres und Äußeres, Stimmung und Wetter, Selbstverständnis und Welt, zusammenbringt. Dieses Outfit ist einzigartig und spontan, geschaffen für diesen einen Tag, den Tag an dem alles passieren kann. Das erste Wunder der Liebe.

All das erscheint vielleicht in seinem Tun alltäglich und selbstverständlich, und in seiner Beschreibung übertrieben, und unnötig. Das ist es nicht. Weder ist das Tun selbstverständlich, noch ist die Beschreibung überflüssig. Das wird dann, und vielleicht erst dann, wirklich deutlich, wenn man es mit Online-Dating vergleicht. Auch dort wird man sich fürs erste Foto schminken und anziehen und im Spiegel betrachten. Doch ach, mit welch anderen Augen.
Denn es beginnt bei den anderen: Was werden sie denken? Bin ich zu dick? Zu dünn? Ist die Frisur erotisch? In Mode? Schmeichelhaft? Welchen Teil muss ich kaschieren? Welches Outfit kommt gut an? Ist sexy? Nicht zu sexy? Widerspiegelt meine Gesamtpersönlichkeit? Gefällt jedem? Ungeschminkt – auf keinen Fall. Reicht die Schminke? Nochmal abschminken und neu schminken? Wie schminken sich die anderen? Ist das Gesicht mainstream genug? Wie muss ich mich schminken, damit ich so aussehe? Aus welchem Blickwinkel muss ich mich fotografieren? Erstes Foto: ich hasse es. Nochmal. Zweites Foto: falsches Licht. Drittes Foto: ich hasse es. Doch noch ein anderes Kleid. Zu gewollt. Lächeln! Authentisch lächeln! Für wen. Oberflächlich die gleiche Tätigkeit, aber etwas fehlt, und zwar das, worum es doch gehen sollte: die Liebe.

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